Was Eltern gegen Übergewicht der Kinder tun können

10.01.2014 20:40

Übergewicht in der Jugend kann später zu Herz- und Knochenschäden,

Diabetes und Asthma führen.

Doch diese Probleme sind für die Kinder weit weg.

Ihnen muss im Alltag geholfen werden – aber wie? 

 

Bea war ein gesundes, normal entwickeltes Kleinkind. Nur beim Essen kannte sie keine Grenzen. Satt wurde sie nie. Bei Kindergeburtstagen schnappte sie sich auch den letzten Krümel von Pizza und Kuchen und jede erreichbare Süßigkeit. Ob Hähnchen mit Peperoni oder gegrillten Tintenfisch – das Kind aß alles gern. Während ihr Bruder pro Jahr zwei Kilo zunahm, legte sie das Doppelte zu.

Das Ergebnis: Mit fünf Jahren trug Bea Hosen für Achtjährige – entsprechend gekürzt. Die Kinderärztin ermahnte die Eltern bei jeder Untersuchung. Doch erst als Bea sieben Jahre alt war, kamen die Warnungen bei Beas Mutter wirklich an. "Es war, als hätte ich gerade erfahren, dass Bea eine potenziell tödliche Allergie oder Diabetes hatte", schreibt Dara-Lynn Weiss in ihrem Buch "Wonneproppen", das dieser Tage in deutscher Übersetzung erschienen ist.

Die Veröffentlichung und ein Artikel in der US-Ausgabe der Zeitschrift "Vogue" sorgten im Frühjahr 2012 in den USA für hitzige gesellschaftliche Debatten: Darf eine Mutter öffentlich über ihr übergewichtiges Kind reden, es auf diese Weise bloßstellen und demütigen? Darf sie ein Kind auf Diät setzen? Wie streng darf sie sein? "Eltern von fettleibigen Kindern meinen, man blamiere ein Kind, wenn man ihm öffentlich ein Stück Kuchen verweigert", sagt die Autorin Dara-Lynn Weiss. "Eltern von normalgewichtigen Kindern hingegen finden es völlig akzeptabel, ihrem Kind öffentlich Süßigkeiten zu verweigern."

 

"Übergewicht lässt sich nicht verstecken"

"Das Kind weiß doch selbst, dass es übergewichtig ist", erklärt Thomas Reinehr von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ). "Andere Kinder sagen ihm das schon." Übergewicht lasse sich nun einmal nicht verstecken. "Man sieht es ja", sagt Reinehr. Spätestens, wenn das Kind von Hänseleien berichtet, sei dies ein Anlass für ein Gespräch über sein Gewicht. "Mit einem direkten Ansprechen, womöglich noch vor anderen Leuten, erreichen Sie nichts."

So kritisch man die publizistische Aktivität von Dara-Lynn Weiss auch sehen kann, so drängend ist das Problem der dicken Kinder – nicht nur in den USA: Seit Mitte der 80er-Jahre hat die Zahl der Kinder mit Übergewicht auch in Deutschland um 50 Prozent zugenommen, die Zahl derer mit Übergewicht hat sich sogar verdoppelt.

Ein Problem an den viel zu vielen Kilos bei Kindern ist, dass sie selbst zunächst gar nicht merken, dass etwas nicht stimmt. Körperlich fühlen dicke Kinder sich in der Regel wohl. Sie leiden zwar unter Hänseleien und Spott von ihren Freunden und Mitschülern, haben aber keine körperlichen Schmerzen. Von den physiologischen Veränderungen wie der Verkalkung der Gefäße, einem höheren Blutdruck, einer Fettleber oder einem "Alters-Diabetes" bekommen sie aber nichts mit. Diese Schäden zeigen ihre Wirkung meist erst, wenn sie erwachsen sind. Und über ein gesundes Leben im Alter denken Kinder natürlich keine Sekunde lang nach.

 

Ganze Familie muss mitziehen

"Soll ein Kind abnehmen, klappt das nur, wenn die ganze Familie mitzieht", erklärt Reinehr. "Was ich als Erwachsener vom Kind verlange, muss ich mitleben." Das Kind fühle sich sonst schnell als Außenseiter. Geschwister sollten die gleichen Regeln befolgen. Übergewichtigen Kindern eine echte Diät zu verschreiben, sei aber nicht der richtige Weg. "Eine Diät für Kinder gibt es nicht, so lange sie im Wachstum sind", erklärt der Kinderarzt. Das Ziel sei vielmehr ein gesunder Lebensstil.

Seine Faustregel für ein gesundes Gewicht: Von der Größe des Kindes (in Zentimetern) werden 100 abgezogen. Ein 128 Zentimeter großes Kind sollte also nicht mehr als 28 Kilogramm wiegen. Ein übergewichtiges Kind sollte aber nicht auf Diät gesetzt werden, damit es abnimmt. Es solle vielmehr im Laufe des nächsten Jahres sein Gewicht bei altersgerechtem Wachstum halten, sozusagen aus dem Übergewicht "herauswachsen".

Um dieses Ziel zu erreichen, muss nicht einmal ein Süßigkeiten-Verbot ausgesprochen werden. Reinehrs Tipp ist ein Teller, der zu Beginn der Woche mit Mini-Tüten Gummibärchen, kleinen Schokoladen-Tafeln oder auch mal einer Handvoll Salzstangen gefüllt wird. Das Kind soll sich die Leckereien über sieben Tage selbst einteilen. Wichtig sei, dass Oma und Opa den Teller nicht zusätzlich auffüllen. "Mehr Süßigkeiten sollten die Eltern gar nicht erst im Haushalt haben", rät Reinehr – eine Absage an Vorräte, deren Verstecke Kinder ohnehin schnell herausfinden.

Oft unbekannte Kalorien-Falle

Eine oft unerkannte Kalorienquelle sind süße Getränke und Säfte. Ideal sind Wasser und Tee. Damit sich die Kinder daran gewöhnen, könnten die bisher bekannten Limonaden und Säfte nach und nach immer mehr verdünnt werden. "Eltern unterschätzen die Kalorien, die in Apfelsaft und Co stecken." Milch und Kakao seien zusätzliche Leckereien und keine Durststiller. Klagt das Kind nach dem Mittagessen über Hunger, müsse geklärt werden, ob der Magen wirklich noch knurrt oder nur der Appetit gestillt werden will. Gegen einen Hunger-Rest könne auch ein Apfel helfen.

Die wahre Herausforderung wartet auf Eltern aber in Imbissbuden oder an der Kasse im Supermarkt: "Liegt das Kind da trotzig am Boden, ist in der Vergangenheit etwas schiefgelaufen", erklärt Reinehr. Dann räche sich die Inkonsequenz der Eltern. Das Kind habe gelernt, dass es mithilfe seines Heulens den Schokoriegel bekommt. Dagegen könne ein Belohnungssystem helfen, das aber nicht in anderen Leckereien bestehen sollte. Vielmehr können klare Verabredungen getroffen werden – etwa, dass das Kind seinen Lieblingscomic bekommt, wenn es nicht quengelt. Ein Besuch in der Pommes-Bude sei nicht komplett tabu. Häufiger als einmal pro Woche sollte er aber nicht stattfinden.

Wie wichtig es ist, schon bei Kindern auf das angemessene Gewicht zu achten, zeigt ein Blick auf die Liste der möglichen Folgeschäden: Ein Diabetes, den sonst nur ältere Erwachsene entwickeln, droht ebenso wie hoher Blutdruck oder Störungen im Fettstoffwechsel. Muskeln und Gelenke haben dem hohen Gewicht nicht genügend Masse entgegenzusetzen. Wird das Übergewicht bis ins Erwachsenenalter mitgenommen, steigt das Risiko für Schlaganfall und Herzkrankheiten, Bauchspeicheldrüsen-, Brust- und Nierenkrebs.

Kompensation mit erneutem Essen

Vor den langfristigen Schäden stellen sich bei den Kindern aber die psychischen Probleme ein: Hänseleien und Vorurteile setzen ihnen ebenso zu wie die Isolation beim Sport oder bei anderen aktiven Betätigungen. Was folgt, ist ein fataler Kreislauf: Kinder und Jugendliche ziehen sich von Freunden und Mitschülern zurück – und kompensieren ihren Kummer mit immer mehr Essen.

Forscher um den Mainzer Sportmediziner Perikles Simon gehen anhand ihrer Analysen davon aus, dass Kinder kurz nach ihrer Einschulung dick werden. Bis zum Alter von fünf Jahren legen die Kleinen so viel Gewicht zu wie vor rund 20 Jahren. "Dann folgen drei Jahre, in denen wir plötzlich eine deutliche Zuwachsrate an Übergewicht ausfindig machen können", erklärt Sascha Hoffmann vom Institut für Sportwissenschaft an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz.

Die Mediziner hatten sich eine relativ einfache Frage gestellt: Wann genau werden deutsche Kinder dick? Ihr Ergebnis: ziemlich genau um das Alter von 7,2 Jahren herum. Mit acht Jahren sind über 20 Prozent der deutschen Kinder übergewichtig. Vor rund 20 Jahren waren es nur 10 Prozent der Kinder. Diese Quote an Übergewichtigen bleibt durch die vermeintlich kritische Phase der Pubertät hindurch bis zur Volljährigkeit relativ konstant.

Verhaltensänderungen im Alltag

Thomas Reinehr ist zugleich Chefarzt an der Vestischen Kinder- und Jugendklinik in Datteln, an der übergewichtige Kinder behandelt werden. "Jungen und Mädchen sind von Übergewicht und Adipositas in gleichem Maße betroffen", sagt er. In Kliniken und Schulungseinrichtungen kämen jedoch mehr Mädchen an. "Das sagt auch etwas über den Druck in unserer Gesellschaft." Der sei jedoch bei Krankenkassen noch nicht zu spüren: Strukturierte Programme wie "Obeldicks" würden zwar von Krankenkassen finanziert, weil ihre Wirksamkeit erwiesen sei. Doch nicht überall in der Republik seien diese Programme in der Nähe zu finden und viele andere Therapien müssten von Eltern aus der eigenen Tasche bezahlt werden. "Ambulante Schulungsprogramme wie etwa ,Obeldicks' sind optimal, weil sie Verhaltensänderungen im Alltag bewirken können", erklärt der Kinderarzt.

Für Susanna Wiegand von der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA) sind die ambulanten Angebote ein Baustein in einer langfristigen Therapie: "Dabei können Verhaltensänderungen und die Mitarbeit der Eltern herbeigeführt werden", erklärt die Wissenschaftlerin. In einer stationären Maßnahme sei dann eine deutliche Gewichtsreduktion möglich – gefolgt von einer wiederum ambulanten Nachbetreuung im neuen Alltag.

Die Krux: Die Nachbetreuung wird derzeit von keiner Krankenkasse oder anderen Geldgebern finanziert. "Für Kostenträger gilt die Maßgabe ,ambulant vor stationär', da wird eher in einzelnen Maßnahmen gedacht", sagt Susanna Wiegand. So werde ein stationärer Aufenthalt in der Regel nur einmal alle vier Jahre bezahlt – genauso wie eine Schulung. "Adipositas ist jedoch eine chronische Erkrankung. Eine einmalige Therapie kann das Problem nicht lösen." Bei einer Asthma-Behandlung beispielsweise werde bereits anders gedacht.

Suche nach Therapieangeboten

Wenn Eltern in Kleinstädten oder auf dem Land keine spezialisierten ambulanten oder gar stationären Angebote finden, finden sie dennoch Hilfe. "Sie können dort den Kinder- oder Jugendarzt fragen", sagt Susanna Wiegand. Manchmal lohne auch eine Nachfrage bei der Krankenkasse, ob sie eine Ernährungsberatung anbietet. Auf der Internetseite bietet die AGA auch eine detaillierte Suche nach Therapieangeboten.

Die Angebote – ob stationär oder ambulant – sollen auch die Psyche der Kinder und Jugendlichen stärken. "Diejenigen, die in eine Behandlung kommen, bringen öfter eine Depression oder eine Angststörung mit", sagt Susanna Wiegand. Zu sehen seien auch untypische Essstörungen oder Probleme im Sozialverhalten – meist ein Rückzug aus dem Freundes- und Bekanntenkreis.

Während chirurgische Eingriffe bei fettleibigen Erwachsenen im Kommen sind, sind sie bei Kindern tabu und bei Jugendlichen nur in extremen Ausnahmefällen eine Option.

Gegenregulation besser verstehen

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft widmet sich der Adipositas mit einem Sonderforschungsbereich. Darin soll der Jo-Jo-Effekt nach einer Gewichtsabnahme mit einer Klinischen Forschergruppe erforscht werden, welche Hormone nach dem erfolgreichen Abnehmen für ein Zunehmen sorgen. "Wir wollen diese Gegenregulation besser verstehen", erklärt Wiegand, die an der Berliner Charité am Projekt beteiligt ist. Ihre Erkenntnisse sollen zu neuen Therapien oder Medikamenten führen.

Dara-Lynn Weiss will mit ihrem Buch "Wonneproppen" anderen Müttern Mut machen. Sie weiß aber auch: "Man kann nicht alles richtig machen. Es wird immer Leute geben, die dir vorwerfen, du würdest deinem Kind die Kindheit rauben. Andere wiederum starren auf jede Süßigkeit, die es isst." Tochter und Mutter jedenfalls haben gelernt, dass Wegschauen der falsche Weg ist. "Heute kann ich zu Bea guten Gewissens sagen: ,Du hast das richtige Gewicht für dein Alter und deine Größe.'"